Wie will ich leben?

Die meisten Menschen werden am Ende mit dieser existentiellen Frage konfrontiert. Damit Ärzt*innen im Sinne der Patienten über lebensverlängernde Maßnahmen und Therapien entscheiden können, brauchen sie möglichst klare Antworten. Die kann eine Patientenverfügung geben. Die Stiftung Gesundheitsstadt Wiesbaden hat zwei Experten befragt, was es zu beachten gibt, und nennt Adressen für weitere Informationen und Formulierungshilfen.

Dr. Susanne Springborn (Foto: privat) ist seit 21 Jahren niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin in Breckenheim; die Praxis ist eine Lehrpraxis der Universitätsmedizin Mainz, Fachbereich Allgemeinmedizin. Die Ärztin ist zudem Lehrbeauftragte in der Gesundheitsökonomie an der Hochschule RheinMain, Fachbereich Wiesbaden Business School; Beiratsmitglied im GerReNet.Wi/ Forum Demenz; Vorstandsmitglied im Ärzte Club Wiesbaden; Qualitätszirkelmoderatorin der KV Hessen und Initiatorin von CURANDUM, einem Netzwerk für sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung vor Ort im Wiesbadener Osten.

Reinhard Claus (Foto:privat) ist Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Gesundheitsstadt Wiesbaden, Rechtsanwalt und Notar a. D. sowie Mitgründer und Seniorpartner in der Wiesbadener Rechtsanwalt- und Notarkanzlei „Buschlinger, Claus & Partner PartG mbH“. Beide Experten sind sich einig:

"Eine Patientenverfügung ist für jeden Erwachsenen sinnvoll"

Stiftung Gesundheitsstadt Wiesbaden: Das BGB schreibt fest, dass Patient*innen ärztlichen Behandlungen prinzipiell zustimmen müssen. Was, wenn das nicht möglich ist, weil die Patientin nicht bei Bewusstsein und schnelles Handeln erforderlich ist?

Reinhard Claus: Gerade für diesen Fall, dass der Patient seinen Willen nicht mehr selbst äußern kann, ist die Patientenverfügung vorgesehen und notwendig, damit dem behandelnden Arzt der Wille des Patienten im Hinblick auf die geplante Behandlung erkennbar wird.
Dr. Susanne Springborn: Ärzte und Ärztinnen entscheiden sich prinzipiell dafür, das Leben zu verlängern und das Leiden zu verringern. Wenn Zeit bleibt, werden die behandelnden Ärzte und Ärztinnen Kontakt zu Angehörigen und der hausärztlichen Praxis aufnehmen. Dort ist der Patient beziehungsweise die Patientin bekannt und meist auch die Wünsche, die das Thema Sterben betreffen. Oder es gibt eine Patientenverfügung, nach der sich die Behandlung möglichst richtet.

SGW: Warum möglichst, ist eine Patientenverfügung nicht bindend?

Reinhard Claus: Eine Patientenverfügung lässt sich jederzeit ändern und anpassen, und das ist wichtig. Entscheidend für den Arzt ist aber der Wille des Patienten im konkreten Zeitpunkt. Der Wille muss nicht zwingend dem entsprechen, was in der Patientenverfügung steht, die einige Zeit vorher, vielleicht in einer ganz anderen Situation formuliert wurde. Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage ,Ich will nicht beatmet werden`. In Zeiten von Covid 19 kann sie möglicherweise nicht zutreffen, da die Beatmung bei dieser Krankheit in vielen Fällen den Weg zurück in ein normales Leben ermöglicht und nicht nur den Eintritt des Todes verzögert. Gerade in solchen Fällen zeigt es sich, dass es sinnvoll ist, einen Bevollmächtigten zu benennen, der dem Arzt im Namen des Patienten klar dessen Willen, bezogen auf die konkrete Situation, erklären kann.
Dr. Susanne Springborn: Ärzte und Ärztinnen haben im Übrigen auch das Recht und manchmal sogar die Pflicht, sich nicht an Punkte der Patientenverfügung zu halten. Doch das ist eher theoretisch. Praktisch wird das umgesetzt, was der Patient oder die Patientin verfügt hat. Für mich als Hausärztin ist daher wichtig, dass die Menschen mir genau erklären, wie sie sich ihren allerletzten Lebensabschnitt wünschen. Wir besprechen das gemeinsam, und die meisten fühlen sich danach erleichtert. Dieser Termin wird gerne auf die lange Bank geschoben. Kein Wunder bei dem Thema. Das Gespräch ist dennoch außerordentlich wichtig und sollte auf alle Fälle stattfinden. Kein Arzt und keine Ärztin werden unnötiges Leid verlängern, aber wir sind verpflichtet, alles zu tun, um Leben zu retten. Das ist eine feine Linie, auf der wir uns bewegen, und die Patientenverfügung hilft bei der Balance. Sie erlaubt aber nicht, uns unkritisch auf die Seite des Todes zu schlagen. Ärzte und Ärztinnen dürfen nicht töten, auch nicht auf Verlangen.

SGW: Je präziser die Patientenverfügung ausformuliert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ärzte im Sinne der Patienten entscheiden können, richtig?

Dr. Susanne Springborn: Ja, allerdings bedeutet präzise in dem Fall nicht, medizinisch genau, womöglich gespickt mit Fachwissen. Es geht vielmehr darum zu erfahren, mit welchem Menschen wir es zu tun haben. Woran glaubt er? Was sind seine Werte? Was ist ihm wichtig? Woran hat er Freude, wovor Angst? Was ist für ihn ein lebenswertes Leben? Es sind die Antworten, die einen Menschen charakterisieren, die helfen zu entscheiden, wie wir behandelt werden wollen.
Reinhard Claus: Eine präzise Formulierung ist wichtig, damit sowohl der Arzt und vor allem aber auch der Bevollmächtigte möglichst eindeutig den mutmaßlichen Willen des Patienten für die konkrete Situation, in der sich selbst nicht mehr äußern kann, ableiten können.

SGW: Ärzte entscheiden für einen ängstlichen Menschen anders als für einen risikofreudigen?

Dr. Susanne Springborn: So möchte ich das nicht sagen. An allererster Stelle setze ich das um, wozu mich der Patient oder die Patientin beauftragt hat. Wenn jemand zum Beispiel ein langes, erfülltes Leben hinter sich hat, aber keine lebenden Angehörigen und Freunde mehr und die letzten Tage oder Wochen nicht allein auf einer Intensivstation liegen, sondern lieber sanft und schmerzfrei einschlafen und bei ihrem vor Jahrzehnten verstorbenem Mann sein will, ist das eine ganz andere Situation als bei einem jungen Menschen, der mitten im Leben steht, dessen Familie sich jeden Tag um sein Krankenbett versammelt, und der erklärtermaßen die Hoffnung auf ein Wunder bis zuletzt nicht aufgeben und kämpfen will.

SGW: Ist das Thema Organspende Teil der Patientenverfügung?

Dr. Susanne Springborn: Wir sprechen das Thema immer an, wenn es um die Patientenverfügung geht. Eine klare Aussage dazu hilft allen Beteiligten.
Reinhard Claus: Der Aussage schließe ich mich an. Eine Erklärung des Patienten zu der Frage der Organspende muss zwar nicht zwingend in eine Patientenverfügung, es ist aber durchaus sinnvoll, eine entsprechende Erklärung des Patienten mit aufzunehmen, damit auch zu diesem Punkt Klarheit geschaffen wird und unnötige Diskussionen vermieden werden, die für alle Beteiligten schwierig sind.

SGW: Eine besonders wichtige Rolle spielt also die Vertrauensperson des Patienten.

Reinhard Claus: Richtig. In der Praxis hat sich oft gezeigt, dass im Einzelfall nicht allein die Formulierung der Patientenverfügung entscheidend ist, sondern diese Vertrauensperson des Patienten, die örtlich und zeitlich zur Verfügung steht und in der Lage ist, mit dem Arzt die Problematik zu erörtern und ihm den Willen des Patienten zu verdeutlichen. Wichtig ist also eine Person, die den Patienten und seine Wünsche dem Arzt gegenüber vertritt,  der sogenannte Vorsorgebevollmächtigte oder der Betreuer.

SGW: Was ist der Unterschied?

Reinhard Claus: Den Vorsorgebevollmächtigten und seine Befugnisse bestimmt der Patient, den Betreuer das Gericht. Durch die Bestellung eines Vorsorgebevollmächtigten soll die Bestellung eines gerichtlichen Betreuers vermieden werden. Durch die eigene Bestellung eines Bevollmächtigten kann der Patient sicherstellen, dass in diesem Notfall, in dem er sich selbst nicht mehr äußern kann, eine allein von ihm bestimmte Person seines Vertrauens zur Verfügung steht, um die Interessen gegenüber dem Arzt zu vertreten und entsprechende Entscheidungen zu treffen.

SGW: Sind nicht automatisch die Ehepartner und erwachsenen Kinder die Vertrauenspersonen?

Reinhard Claus: Nein. Für den Patienten entscheiden kann nur ein Bevollmächtigter oder ein gerichtlich bestellter Betreuer. Man tut also gut daran, einen Bevollmächtigten zu benennen, damit die oft schwierigen Entscheidungen von einer Person des Vertrauens getroffen werden. Andernfalls würde die endgültige Entscheidung letztlich einem gerichtlichen Betreuer und damit oft einer für den Patienten fremden Person überlassen.

SGW: Muss man Vorsorgebevollmächtige von einem Notar beglaubigen lassen?

Reinhard Claus: Nein, weder die Patientenverfügung noch die Vorsorgevollmacht müssen zwingend von einem Notar formuliert oder beglaubigt werden. Er kann jedoch sicherstellen, dass der tatsächliche Wille des Patienten und der Umfang der Vorsorgevollmacht juristisch möglichst klar und zweifelsfrei formuliert werden, damit unnötige Diskussionen vermieden werden können.

SGW: Wieviel kostet das?

Reinhard Claus: Wenn sich die Befugnisse nur auf die Erklärungen gegenüber dem behandelnden Arzt im Zusammenhang mit der Patientenverfügung beziehen, entstehen dafür Notarkosten in Höhe von etwa 70  bis 100 Euro. Wenn der Bevollmächtigte zugleich berechtigt sein soll, für den nicht mehr handlungsfähigen Patienten auch Vermögensverfügungen zu treffen, richten sich die Notarkosten nach dem Vermögen und können bis zu 1.000 Euro betragen. Sollte der Bevollmächtigte auch über Grundstücke des Patienten verfügen können, ist notarielle Beglaubigung zwingend notwendig.

SGW: Frau Dr. Springborn, Herr Claus, haben Sie eine Patientenverfügung und einen Vorsorgebevollmächtigten?

Dr. Susanne Springborn: Seit Jahrzehnten habe ich eine Patientenverfügung und trage den Organspendeausweis bei mir. Die Verfügung unterschreibe ich jedes Jahr neu, damit sie aktuell bleibt. Eine Vorsorgevollmacht besteht zugunsten meines Ehemannes. Wir haben alles genau besprochen. Das gibt mir ein sicheres Gefühl bei diesem schweren Thema.
Reinhard Claus: Ja, ich habe seit längerem eine Vorsorgevollmacht mit Patientenverfügung für mich erstellt. Eine Vollmacht allein, ohne Patientenverfügung, halte ich für weniger sinnvoll. Das kann zu unnötigen Diskussionen führen, ob der Bevollmächtigte tatsächlich entsprechend dem vermutlichen Willen des Patienten handelt.

SGW: Welche Qualitäten sollte eine Vorsorgebevollmächtigte haben?

Dr. Susanne Springborn: Sie sollte eine Vertrauensperson der Patientin sein, jemand, der sie lange, sehr gut kennt und jemand, der auf ihrer Seite ist. Weder Vorsorgebevollmächtigte noch Betreuer dürfen ihre eigenen Interessen im Blick haben. Sie müssen allein die Interessen und Wünsche des Patienten vertreten. Es ist deshalb sinnvoll, die Patientenverfügung gemeinsam mit dem Vorsorgebevollmächtigten oder Betreuer zu machen oder sie mit ihm zu besprechen.
Reinhard Claus: Die Person des Bevollmächtigten sollte sorgfältig ausgewählt sein. Sicher wird dies in aller Regel ein naher Verwandter sein. Wichtig ist aber auch, dass die Person in der Lage ist, persönlich und nicht nur per Telefon mit dem behandelnden Arzt die anstehenden medizinischen Probleme sachgerecht zu erörtern. Und sie sollte in dieser bestehenden Krisensituation den Willen des Patienten mit dem nötigen Nachdruck vertreten und durchsetzen können.

SGW: Macht es Sinn, die Last auf mehrere Vorsorgebevollmächtigte zu verteilen?

Dr. Susanne Springborn: Meine Erfahrung ist, dass genau aus diesem Grund oft mehrere Vertrauenspersonen, also Vorsorgebevollmächtigte, vorgeschlagen werden. Ein anderer Grund kann sein, dass Eltern alle Kinder einsetzen, um sie gleich zu behandeln.
Reinhard Claus: Ich halte mehrere gleichberechtigte Bevollmächtigte für problematisch. Eine solche Regelung verstärkt das Risiko, dass es in der Krisensituation zu unnötigen Diskussionen kommen kann, wenn die Bevollmächtigten unterschiedliche Meinungen haben und den Ärzten unterschiedliche Weisungen erteilen wollen. Wichtig ist, dass eine Person zur Verfügung steht, die letztlich für den Patienten Entscheidung trifft und zu verantworten hat. Dies ist für den Bevollmächtigten sicher oft nicht leicht, aber widersprüchliche Diskussionen zwischen mehreren Bevollmächtigten und dem Arzt erschweren diese Aufgabe nur zusätzlich.

SGW: Aber der Bevollmächtigte darf sich mit anderen Personen beraten?

Reinhard Claus: Ja, natürlich. Es kann helfen, sich mit dem Patienten nahestehenden Personen zu beraten. Die Entscheidung sollte aber im Interesse der Klarheit durch eine Person getroffen und gegenüber dem Arzt kommuniziert werden. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht sinnvollerweise ein Ersatzbevollmächtigter benannt wird für den Fall, dass der Bevollmächtigte, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage ist, seine Aufgabe wahrzunehmen. Dies ist in aller Regel zu empfehlen.

SGW: Ist es strafbar, sich als Vorsorgebevollmächtigter und Betreuer nicht an die Patientenverfügung zu halten, etwa Organspenden abzulehnen, die der Patient gewünscht hat?

Reinhard Claus: Da es im Strafrecht immer auf das individuelle Verschulden im Einzelfall ankommt, kann man dies nicht allgemein beantworten. Grundsätzlich kann es jedoch strafbar sein, wenn ein Bevollmächtigter von Weisungen des Vollmachtgebers ohne rechtfertigenden Grund abweicht.

SGW: Was würden Sie Menschen raten, die angesichts von Covid 19 über ihre letzten Tage und Stunden nachdenken?

Dr. Susanne Springborn: Ich rate generell zu einer Patientenverfügung und dem Benennen eines Vorsorgebevollmächtigten, beides kann formlos und handschriftlich notiert sein. Das wird anerkannt. Man sollte außerdem eine Notiz im Portemonnaie bei sich tragen, auf der vermerkt ist, dass man eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung hat, dazu die Telefonnummer und Emailadresse der Person, die Zugang zu den Unterlagen hat.
Reinhard Claus: Dem schließe ich mich an. Wenn man dabei sicher sein will, dass der persönliche Wille juristisch klar und eindeutig formuliert wird, ist die Zuziehung eines Notars oder Rechtsanwalts sicherlich sinnvoll, um in der Krisensituation, für die diese Erklärung gemacht wird, unnötige Diskussionen so weit wie möglich zu vermeiden.

SGW: Liebe Frau Dr. Springborn, lieber Herr Claus, wir danken Ihnen für das Interview!

 

Weitere Informationen zur Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung

Das Bundesministerium  der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat die kostenlosen Broschüren Betreuungsrecht – mit ausführlichen Informationen zur Vorsorgevollmacht" und „Patientenverfügung“ veröffentlicht. Neben zahlreichen Informationen enthält sie ein Baukastensystem, nach dem sich Patientenverfügungen gliedern und formulieren lassen, und eine Patientenverfügungskarte im Bankkartenformat, zum Ausfüllen und Ausschneiden. Downloads, Bestellungen und mehr Informationen

Das Bundesministerium für Gesundheit bietet Textbausteine für eine Patientenverfügung als Download an. Auf der Site kann man auch die oben genannten Broschüren des BMJV bestellen. Downloads und mehr Informationen

Die Betreuungsbehörde Wiesbaden informiert, wie man eine Patientenverfügung erstellt und verschickt gratis die Broschüre „Rechtliche Vorsorge – Sie entscheiden, wer entscheidet!“. Download und mehr Informationen

Die Geschäftsstelle des Seniorenbeirates der Landeshauptstadt Wiesbaden hilft beim Ausfüllen von Dokumenten zum Thema Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuung. Adresse und mehr Informationen